HOME   BIOGRAPHIE    BIBLIOGRAPHIE    MONATSOBJEKT    JOUR FIXE    FOTOGALERIE    SHOP   FITNESS  LIEFERBARE BÜCHER  VERGRIFFENE BÜCHER  REISETAGEBUCH   WIENTAGEBUCH   IMPRESSUM

WIEN-TAGEBUCH: 10. März 2017

Wie kommt es, daß eine Urkunde aus dem Jahr 1806 zum "Blauen Einhorn", Jugendstil-Glasfenstern, einem Schlämmerarbeiter der Wiener Porzellanmanufaktur, Franz Schubert, einem Lichtentaler Pfarrer und zwei vergoldeten Seraphim führt? Und daß wir unterwegs noch Hinweise auf Nikolaus Lenau, Heimito von Doderer, Arnold Schönberg und Richard Gerstl finden?

Als ich an einem der vergangenen Samstage eine Urkunde über ein Aufgebot aus dem Jahr 1806 fand, war das für mich der Anlaß zu mancherlei Forschungen und zu einem Spaziergang von Schuberts Geburtshaus zur Lichtentaler Kirche. Und was mir unterwegs begegnete, schildere ich hier.

Alles begann mit dieser Urkunde:

Aufgebot 1806 Lichtenthal

Endesgefertigter bezeuge, daß die in meinem Pfarrbezirke Himmelpfort-
grund 78 wohnhaften Franz Kottwitz Schlämarbeiter in der kk. Porzellain
fabrik von Altkölkau in preuß[isch] Schlesien geb.[ürtig] katholisch 32 Jahr alt
mit der in der Währingergasse No 182 wohnhaften Barbara
Haudorf von ungarisch Altenburg gebürtig einer Wittwe
katholisch, 28 Jahr alt
als Brautleute ordentlich dreymal verkündiget
worden

und die vorgeschriebene Gebühr entrichtet haben, auch
gegen ihre eheliche Verbindung kein in dem höchsten
Ehepatente festgesetztes Hinderniß entdecket worden sey.

Wien den 3ten August im Jahre 1806
Joh. Mich. Merroth erzbisch.[öflicher]
Pfarrer im Lichtenthale

Urkunde 1806 Stempel 6 kreuzer

Dafür wurden sechs Kreuzer bezahlt.

Kottwitz Schlämmarbeiter Porzellanfabrik

Franz Kottwitz war "Schlämarbeiter in der kk. Porzellainfabrik". Von ihm wissen wir nicht viel; ein Franz Kotwitz ist in einer undatierten Aufstellung der Wiener Porzellanmanufaktur zu finden, die sich auf die Landwehr bezieht. Es steht kein Kreuz neben seinem Namen, er hat es also überlebt.
(Quelle: Österreichisches Staatsarchiv, FHKA 140, Personal 1783-1861:
"Verzeichniss / Derjenigen Individuen, welche von der k: k: Porzellän Manufactur im Jahre 1809 freywillig unter das 1te Stadtwiener Landwehr Bataillon getreten sind und die 5te Kompagnie gebildet haben.")

Danach verliert sich seine Spur.

Urkunde 1806 Pfarrer Merroth

Der Pfarrer Johann Michael Merroth bestätigte das Aufgebot; er hatte "durch einige Jahre als Kurrat auf der Pfarr gedienet, nachdem er hier 7 Jahre Pfarrer gewesen, auf die Erzbischöfliche Patronats Pfarre Fischament befördert worden . . . Unter seiner Obsorge sind die 2 am Hochaltar sich befindliche Cherubinen aufgestellet, und andere Verzierungen vorgenommen worden . . ." (Merroth war von 1800 bis 1807 Lichtentaler Pfarrer).
(Quelle: Joseph Lingen: Kurze Darstellung der Geschichte der erzbischöflichen Patronats-Pfarrkirche zu den heiligen vierzehn Nothhelfern im Lichtenthal in Wien: Wien 1814, S. 19).

Lichtenthaler Kirche

Lichtentaler Pfarrkirche: zwei Engel (wohl die vorgenannten "Cherubinen"
– recte Cherubim – des Pfarrers Merroth).

Eine wichtige Funktion übte Merroth für das k. k. Armen-Institut aus, das im Jahr 1783 von
Joseph II. in Wien errichtet worden war.
Merroth, "Pfarrer im Lichtenthal, wohnt daselbst in der Kirchengasse im Pfarrhof Nro. 75 im zweyten Stock" wird als Erster Vorsteher im "Vier und zwanzigsten Haupt-Bezirk" und als Vorsteher im "Fünf und zwanzigsten Haupt-Bezirk" genannt.
(Quelle: Verzeichniß aller Armen-Väter, Bezirks-Directoren, Haupt-Bezirks-Vorsteher etc., Wien 1803, S. 71, 75).

A. Schmidl berichtet anno 1837: "Der Pfarrer und ein Armenvater jedes Bezirkes beurtheilen und klassifizieren die Armen, welche in vier Klassen von einem bis vier Gulden monatlich erhalten" (Quelle: A. Schmidl: Wien wie es ist. Wien 1837, S. 292).

 Als segensreich erwiesen sich auch die in den 1830er Jahren errichteten Kinder-Bewahr-Anstalten (Schmidl, S. 295-298) "für Aufnahme noch nicht schulfähiger Kinder von zwei bis sechs Jahren, von dürftigen, außerhalb ihrer Wohnung arbeitenden Leuten, um selbe vor Verwahrlosung zu hüten, und zugleich naturgemäß alle ihre Kräfte zu entwickeln und zur Schule vorzubereiten . . . Die Kinder kommen früh nach 7 Uhr, bleiben bis Mittag, und dann von 2 Uhr bis Abends; viele auch über Mittag" (Schmidl, S. 297).

Das war damals möglich – und heute?

Geburtshaus Schubert

Mit der Straßenbahnlinie 38 komme ich zur Station Canisiusgasse. Nach wenigen Schritten erreiche ich das Geburtshaus von Franz Schubert (Nußdorfer Straße 54).
Will man zur Lichtentaler Kirche mit den zwei Cherubim, steigt man die Himmelpfortstiege hinab, die die Nußdorferstraße mit der Liechtensteinstraße verbindet.

Himmelpfortstiege

Es regnet, ist naß und kalt, aber ein Blick auf ein Jugendstilhaus
entschädigt mich fürs Frieren:

Himmelpfortgasse 1

Mir fiel das Jugendstilhaus Nr. 1 sofort auf. Und ich hatte das Glück, daß gerade Frauen mit Kindern die Tür aufschlossen – da bat ich, zum Fotografieren eintreten zu dürfen, was mir freundlich gestattet wurde. Die folgenden Bilder zeigen das schön renovierte Gebäude von außen und viele Details aus dem Inneren (es gibt noch mehr davon, aber das zeige ich vielleicht später einmal).

Himmelpfortgasse 1

Himmelpfortgasse 1

Himmelpfortgasse 1

Himmelpfortgasse 1

Himmelpfortgasse 1    Himmelpfortgasse 1

Himmelpfortstiege

Auf der Liechtensteinstraße angelangt, der Blick hinauf zur Himmelpfortstiege.

Himmelpfortstiege

Zum blauen Einhorn

Die unterm "blauen Einhorn" angebrachte Tafel nennt Nikolaus Lenau
und Heimito von Doderer.

Zum blauen Einhorn

Die beiden auf den Tafeln genannten Häuser Liechtensteinstraße 74 (oben)
sowie Liechtensteinstraße 68-70 (unten) gibt es nicht mehr.

Arnold Schönberg

Hier genannt: Arnold Schönberg und Richard Gerstl, dem derzeit eine Ausstellung in der
Schirn-Kunsthalle in Frankfurt gewidmet ist (bis Mai 2017). Der Maler wird gerade wiederentdeckt!

Lichtenthaler Kirche

Die Lichtentaler Kirche "zu den 14 Nothelfern", auch als "Schubertkirche" bekannt.

Lichtenthaler Kirche    Lichtenthaler Kirche, Schubert

Unten: die Cherubim des Pfarrers Johann Michael Merroth:

Lichtentaler Kirche

Lichtentaler Kirche

Lichtentaler Kirche, Kanzel

Die klassizistische Kanzel von Anton Drach (1774, 1836 renoviert)
(Quelle: Dehio, Wien II. bis IX. und XX. Bezirk, Wien 1993, S. 376).
Oben der Evangelist Johannes.

Lichtentaler Kirche, Kanzel

Lichtentaler Kirche, Deckengemälde

Ein Blick nach oben
(Fresken an Langhaus und Chorgewölben von Franz Zoller 1771/72, renoviert 1828, 1858. Quelle: Dehio, s. oben, S. 476)

Lichtentaler Kirche

Am Kircheneingang sind die Bodenfliesen schon sehr abgenützt; dort, wo sie im Kircheninneren abgedeckt sind, bleiben sie besser erhalten, und an manchen Stellen sieht man noch unversehrte Muster:

Lichtentaler Kirche, Bodenbelag

Lichtentaler Kirche, Bodenbelag

Bodenfliesen vor einem Seitenaltar.

Lichtentaler Kirche, Orgel

Zur Orgel lesen wir im Dehio (s. oben, S. 374):
"Orgel, Gehäuse einer 1774/75 von Johann Michael Panzer errichteten Orgel, Werk 1984 von der OÖ. Orgelbauanstalt St. Florian; der Spieltisch der Panzer-Orgel im Pfarrmuseum".

Lichtentaler Kirche, Orgel

Lichtentaler Kirche, Engel

Stuckierte Engel mit Musikinstrumenten von Martin Karl Kelber 1772 (Dehio S. 376).

Lichtentaler Kirche, Engel

Lichtentaler Kirche, Nepomuk

Vergoldete Reliefs mit Beichte und Brückensturz Nepomuks.

Lichtentaler Kirche, Nepomuk

Lichtentaler Kirche, Nepomuk (der Brückensturz)

Lichtentaler Kirche

Ein Blick zurück zum Altar, und dann gehe ich hinaus in den verregneten Nachmittag.

Schubert Geburtshaus

Schubert Geburtshaus

Im Hof vom Geburtshaus Franz Schuberts.

Und am Abend höre ich im Brahmssaal die "Winterreise"
mit Robert Holl und Oleg Maisenberg.
Welch wunderbarer Tages-Ausklang nach der Lichtental-Wanderung!

Zu weiteren Stationen im Wien-Tagebuch geht es HIER

Fotos: Copyright Dr. Waltraud Neuwirth, Wien

Danke für Ihr Interesse an meiner Website! Wenn Sie meine aktuellen Nachrichten erhalten wollen, schreiben Sie bitte unter:

waltraud.neuwirth1@chello.at